Universität des Saarlandes
Fachbereich 6: Sozial- und Umweltwissenschaften
Fachrichtung 6.3: Soziologie
Abschlußarbeit zur Erlangung des Grades eines Diplom-Soziologen
Vorgelegt von: Joerg-U. Minx, cand. soz.
Datum der Abgabe: 22. Dezember 2000

Eine Untersuchung zur Frage nach Ansatz und Grenzen
einer Soziologie des Rationalismus

Mir scheint, der Widerstand, den so viele Intellektuelle der soziologischen Analyse entgegensetzen, die ihnen stets der reduktionistischen Grobschlächtigkeit verdächtig und immer dann besonders verabscheuungswürdig erscheint, wenn sie direkt auf ihr eigenes Universum angewendet wird, hat seine Wurzel in einem irregeleiteten Gefühl der ( geistigen) Ehre, das sie daran hindert, die realistische Darstellung des menschlichen Handelns zu akzeptieren, die die erste Voraussetzung einer wissenschaftlichen Erkenntnis der sozialen Welt ist, oder, genauer gesagt, in einer gänzlich unangemessenen Vorstellung von ihrer Würde als »Subjekt«, aus der heraus sie die wissenschaftliche Analyse der Praktiken als Anschlag auf ihre »Freiheit« oder »Interessenfreiheit« empfinden.

Es stimmt, daß die soziologische Analyse dem Narzißmus nicht gerade schmeichelt und mit dem zutiefst selbstgefälligen Bild von der menschlichen Existenz, das all jene verteidigen, die von sich unbedingt als von den »unersetzlichsten aller Lebewesen« denken möchten, einen radikalen Bruch vollzieht. Nicht minder aber stimmt, daß sie eines der machtvollsten Instrumente der Erkenntnis seiner selbst als eines sozialen, und das heißt einmaligen, Lebewesens ist. So mag sie zwar die illusorischen Freiheiten in Frage stellen, in deren Besitz sich diejenigen wähnen, die in dieser Form der Selbster kenntnis einen »Abstieg in die Hölle« erblicken und alle Jahre wieder der jeweils neuesten, dem Tagesgeschmack angepaßten Erscheinungsform der »Soziologie der Freiheit« applaudieren – die bereits vor nunmehr fast dreißig Jahren von einem bestimmten Autor u nter diesem Namen verfochten wurde – , doch bietet sie auch einige der wirksamsten Mittel, um jene Freiheit zu erlangen, die sich den sozialen Determinismen mit Hilfe der Erkenntnis dieser sozialen Determinismen immerhin abringen läßt.

Pierre Bourdieu: Praktische Vernunft

I: Methodische und methodologische Vorfragen

„Wir lassen nicht die Vergangenheit wiedererstehen; wir konstruieren Geschichten über die Vergangenheit. Aber damit es gute Geschichte ist, muß die Darstellung in sich geschlossen und logisch sein und sich im R ahmen von verfügbarem Belegmaterial und verfügbarer Theorie halten.“ (North 1992, S. 156)

Die Richtigkeit dieser – im weiteren Sinne des Wortes: konstruktivistischen – These des Nobelpreisträgers Douglass C. North läßt sich exemplarisch an der Rezeption von Person und Werk von Max Weber 1 in der Forschung aufzeigen. Denn Max Weber gibt es gleich zweimal : es gibt den guten Max Weber und den bösen Max Weber. Den einen ist Max Weber ein „blinder Prophet“ (so Hecht 2000, S. 3), der „persönlich und wissenschaftl ich scheitern mußte“ (Schöllgen 1998, S. 171), der „uns nichts mehr zu sagen hat“ (Tenbruck 1959, S. xxx), den anderen »der größte Deutsche des Jahrhunderts« (Jaspers xxx, S. xxx), der die Sozialwissenschaften bis auf den heutigen Tag grundlegend geprägt h at – und zwischen diesen beiden Extremtypen liegen eine ganze Reihe von vermittelnden Perspektiven, wobei der Fall, daß ein Forscher im Laufe seines Schaffens seine Auffassung grundlegend revidiert (und zwar in unterschiedliche Richtungen! Vgl. etwa Tenbru ck 1959 und 1999, Schöllgen 1975 und 1998; Schluchter 2000) nicht ganz selten ist.

Für diese in der Geschichte der Soziologie wohl einmalige Situation – man könnte hier höchstens noch an Max Scheler (1874 – 1928) denken – gibt es Gründe: Kalberg (1981, S . 9) hat die Tatsache, daß die Urteile über Max Webers Leben und Werk diametral differieren, vor allem Weber selbst zugeschrieben: wichtige der uns heute vorliegende Arbeiten von Max Weber tragen den Charakter einer flüchtigen Skizze, es gibt unvermittelte Gedankensprünge, manches wirkt geradezu wirr und als Ergebnis einer ungeordneten Grübelei; vieles auch ist aufgrund seines frühen Todes unfertig. Es trägt aber auch die Weite der universalgeschichtlichen Perspektive von Weber bei zu diesem Bild. 2

Und noch ein Aspekt ist hierbei zu berücksichtigen: die Biographieforschung steht nach wie vor vor wichtigen offenen Fragen zu Person und Werk von Max Weber (vgl. dazu etwa Kaesler 1989, 29 f.): manches wurde bewußt »retuschiert« (Kaesler), manches vernichtet – e in Zustand, bei dem man im Vorhinein nicht weiß, ob diesen Fragen allein ein historischer Wert zukommt oder ob sie zum Verständnis des Werkes beitragen können. Und an diesem Zustand wird sich solange grundlegend nichts ändern, bis zumindest die erhaltene K orrespondenz der Jahre ab etwa 1910 frei zugänglich ist; bis dahin beruhen biographische Angaben – und auch wichtige Angaben über das Werk – im Grunde nach wie vor auf der Biographie von Max Webers Frau (Marianne Weber: Max Weber – Ein Lebensbild. Zuerst 1 926; zur Frage nach deren Zuverlässigkeit vgl. Kaesler 1989, S. 39 ff.).

1 Karl Emil Maximilian Weber wurde am 21. April 1864 in Erfurt geboren; er starb am 14. Juni 19 20 im Alter von 56 Jahren in München. Zur Biographie vgl. etwa Kaesler 1978, S. 40 ff.
2 Vgl. dazu auch Baumgarten (1964, S. 483 Anm. x); insbesondere auf der Wiener Tagung des Vereins für Sozialpolitik (im folgenden: VfS) im Jahr 1913 erregte Weber mit se inem Referat zur Werturteilsproblematik heftigen Unwillen: Weber „… benutzte diese Gelegenheit, um seine Auffassung durch ein Resümee seiner kunst – und vor alle musiksoziologischen Studien zu stützen, womit er die Mehrheit der Zuhörer »gegen sich in Harn isch brachte« …“ (so Baumgarten 1964, zit. in Blaukopf 1996, S. 128).

1. Methodische Fragen

Wie kann man in dieser unübersichtlichen Situation methodisch vorgehen? Die methodische Frage nach einer angemessenen Hermeneutik für das Werk – für Schleierma cher (und Dilthey) ist sie bezeichnenderweise eine „Kunstlehre“! – nehmen in der Interpretation des Werkes von Max Weber eine zentrale Rolle ein: so nähert sich etwa Wilhelm Hennis – in der Interpretation von Schluchter – den Texten so, „als habe Weber Abs ichten camoufliert, Fragestellungen versteckt, Dinge anders gemeint als gesagt, so daß man ihm erst die Schliche kommen müsse. Doch ich bin der Meinung, daß dies abwegig ist …“ (Schluchter 1988b, S. 560). – Man hätte hier gerne mehr methodische Sicherheit in diesen Fragen; allein, sie sind über das (qualitative) Verfahren der Hermeneutik nicht zu gewinnen. – Demgegenüber sind die spezifisch empirischen, nonreaktiven, quantifizierenden Verfahren der content analysis (vgl. dazu etwa Friedrichs 1990, S. 314 ff .) allein schon aus Gründen der Arbeitsökonomie abzulehnen; hinzu kommen aber andere gewichtige inhaltliche Faktoren. 3

Man könnte demgegenüber – vom Ansatz einer Wissenschaftssoziologie bzw. Soziologie der Soziologie her – eine qualitative Inhaltsanalyse entwerfen, die dann Fragen des Entstehungsmilieus und der Biographie, des inneren und äußeren Kontextes im weitesten Sinne des Wortes zu stellen hat; dies aber ist genau das, was derzeit, mit unterschiedlichen Ergebnissen, geschieht – hier schließt sich de r Kreis (s.o.). Kieserling (2000, S. 45) hat in gewisser Weise – der Vorwurf trifft eben allein die soziologische Theorie ! – Recht, wenn er beklagt, daß

„… eine Disziplin, die sich im ganzen mit großer Entschiedenheit als Wirklichkeitswissenschaft vers teht, ihre eigene Selbstreflexion mit den hermeneutischen Mitteln der Geisteswissenschaft statt mit den eigenen Mitteln zu betreiben versucht.“ –

Nun verspricht das von Ulrich Oevermann begründete Verfahren einer sog. Objektiven Hermeneutik – von Müller – Do ohm (Müller – Doohm 1996, S. 137 Anm. 314) mit den „höheren Weihen“ einer Nähe zur Methodologie von Adorno ausgestattet – , „… die Geltung der Interpretation an intersubjektive Überprüfbarkeit zu binden.“ (Wernet 2000, S. 11). Allein: die fünf Prinzipien de r Objektiven Hermeneutik ( Kontextfreiheit , Wörtlichkeit , Sequentialität , Extensivität , Sparsamkeit ) – von Oevermann ausdrücklich mit Rekurs auf das Charisma – Konzept von Max Weber begründet (vgl. Oevermann 1991, S. 331; daneben beruft sich Oevermann auf Pei rce und Mead) – gehen im Effekt über Prämissen der Hermeneutik nicht hinaus (1.), verlagern das Problem divergierender Interpretationen vom Autor auf den Interpreten (2.) oder halten nicht, was sie versprechen (3.). Dies kann an dieser Stelle nicht näher b egründet werden. –

a) Erste Prämisse: Webers Schriften als einheitliches »Forschungsprogramm« (Schluchter)

Es gibt aus diesem Dilemma keinen Ausweg, wohl aber einen Weg in dieser unübersichtlichen Forschungslage: Ausgangshypothese der folgenden Untersuchung soll die von Wolfgang Schluchter 1988 vorgelegte Periodisierung des Werks von Max Weber sein: 4 sie beinhaltet die These, daß es sich bei Webers Arbeiten insgesamt um ein zusammenhängendes Forschungsprogramm mit einer im Zeitverlauf klar erkennbaren Zuspit zung hinsichtlich einer Rationalisierung aller Lebensbereiche handelt – mit anderen Worten: daß es – im großen und ganzen – eine einlinige und folgerichtige Entwicklung in Webers Denken gibt.

3 Z.B.: die Unterscheidung zwischen latenten und manifesten Inhalten, die Frage nach der Werkentwicklung (also das spezifische Problem der Zeitlichkeit), die Unsinnigkeit von „Stichpr oben“ und „Pretest“ bei inhaltlichen Fragen usw.; die Inhaltsanalyse dient dementsprechend auch ganz anderen Zwecken (dazu etwa Friedrichs 1990, S. 317 f.). –

Dieser Sachverhalt soll hier etwas detaillierter dargestellt we rden: Es gibt für Schluchter im corpus weberianum (im folgenden: c.w.) eine klare Entwicklungsperspektive: keineswegs ist ein Konzept der Rationalisierung vorgängige Arbeitsgrundlage seiner Forschungen, sondern vielmehr ein Resultat umfangreicher Spezialfo rschungen, die sich zunächst mit Subsystemen beschäftigen, die der Rationalisierung zugänglich erscheinen (die äußere Organisation der Welt), dann aber auf Lebensbereiche ausgedehnt wurden, die sich einer Systematisierung und Ordnung gegenüber zu sperren s cheinen: Religion und Musik etwa, aber auch die menschliche Sexualität …

Nach Schluchter ist es sinnvoll, Max Webers Foschungsprogramm in drei Arbeitsphasen aufzuteilen, 5 voneinander getrennt durch jeweils eine Zäsur, die Schluchter als »Durchbruch« bez eichnet. Demzufolge reicht die erste Arbeitsphase bis zum Ausbruch der Krankheit, also etwa bis um die Jahrhundertwende. Sie ist gekennzeichnet vornehmlich durch Arbeiten auf dem Gebiet der Nationalökonomie, aber auch empirische Forschung. –

Der erste methodologische »Durchbruch« beinhaltet die Rezeption der Logik des Neukantianismus („unsere modernen Logiker“ im Objektivitätsaufsatz von 1904, WL, S. 146) und deren Integration in den eigenen Ansatz: Max Weber gewinnt einen eigenen Standpunkt im Methodenstr eit der Nationalökonomie (dazu s.u.). Dieser Durchbruch ist zeitlich eindeutig zu bestimmen: 1901 war das einzige Jahr, in dem Max Weber krankheitsbedingt nicht publiziert hatte. Die Schriften ab 1902 beinhalten die neuen Erkenntnisse über den ökonomischen Rationalismus und – damit zusammenhängend – den wissenschaftlichen Rationalismus (Schluchter 1988a, S. 103). – Die darauffolgende zweite Arbeitsphase ab etwa 1902 beinhaltet als große Werke die Protestantismusschrift sowie die methodologischen Schriften; Weber publiziert in dieser Phase seine selbständige Position in den beiden wichtigen Methodenstreitpunkten der Nationalökonomie: theoretische vs. historische Schule, subjektive vs. objektive Wertlehre. Hinzu kommen die Arbeiten über den Wurturteilsstreit.

4 Als eine Stimme unter vielen : „Schluchter, der wohl gegenwärtig einer der besten Weber – Kenner ist …“ (Mikl – Horke 1997, S. 275); es ist Schluchters methodische Prämisse, daß die systematische Interpretation der Werkanalyse zu folgen habe (Schluchter 1988b, S. 557). Schluchters Ansatz lautet folgendermaßen: „…es ist inzwischen in meinen Augen k lar, daß es nicht einen [Zugang zu Werk und Person; jum] gibt, sondern mehrere, und daß man in Webers geistiges Zentrum nur gelangen kann, wenn man wenigstens drei Bedingungen erfüllt: Man muß die Problem – und Werkgeschichte berücksichtigen, man muß eine von theoretischen Interessen geleitete Rekonstruktion des Forschungsprogramms versuchen, die an der Verbindung von konkretester historischer Forschung mit systematischem Denken festhält […] und man muß eine »biographische« Perspektive entwickeln, die die Wurzeln des systematischen Denkens bis in die Lebensanschauung hinein zu verfolgen erlaubt. Nur wenn man die Trennung zwischen wissenschaftlicher Betrachtung und weltanschaulicher Wertung nicht verabsolutiert, sondern als Voraussetzung dafür versteht, beide ohne Vereinseitigung aufeinander beziehen zu können, treten die Wertinteressen in den Blick, die für die theoretisch – historische Forschung leitend sind.“ (Schluchter 1988a, S. 16)
5 Die Periodisierungen der Arbeitsphasen von Max Weber sind unterschiedlich: Tenbruck 1959 unterscheidet etwa ebenfalls drei Werkphasen, unterteilt sie aber nach sachlichen Gesichtspunkten. So beinhaltet die zweite Phase (1903 – etwa 1910) die methodologischen Schriften; da aber »Protestantische Ethik« bereits 1904 geschrieben wurde, überlappt sich für Tenbruck die zweite mit der dritten Phase, in der die religionssoziologischen Schriften im Vordergrund stehen.

Die zweite Zäsur mit dem zweiten theoretischen Durchbruch ist etwa um das Jahr 1910 anzusetzen:

„Zwischen der »Protestantischen Ethik« und der »Wirtschaftsethik der Weltreligionen« liegt eine Entdeckung. Sie war in meinen Augen so bedeutsam, daß man von einem zweiten Durchbruch sprechen kann. Worin bestand diese Entdeckung? Auf eine kurze Formel gebracht; darin, daß nicht nur die Ökonomie, sondern die ganze moderne okzidentale Kultur von einem spezifischen Rationalismus durchdrungen ist. Nicht zuletzt au fgrund von Forschung auf dem Gebiet der okzidentalen Musikgeschichte hatte sich für Weber dieser überraschende Zusammenhang ergeben.“ (Schluchter 1988a, S. 102 f.; Hervorhebung im Text; jum)

Ausgelöst wurde diese Erkenntnis offenbar durch die Arbeiten übe r die rationalen Grundlagen der (okzidentalen) Musik. 6 Dieser zweite Durchbruch ist biographisch schwieriger zu terminieren, da die musiksoziologische Schrift von Max Weber zu Lebzeiten nicht publiziert wurde und ihre Abfassung nicht sicher zu datieren ist . Deutlich ist allein, daß sowohl die Wirtschaftsethik der Weltreligionen als auch Wirtschaft und Gesellschaft die Rationalisierungsphänomene als universelle Fragestellung abhandeln; diese Perspektive aber wird erstmalig im musiksoziologischen Fragment sichtbar.

Die dritte und letzte Arbeitsphase, die von etwa 1910 bis zu Webers Tod am 14. Juni 1920 dauert, steht demzufolge auf zwei Säulen (Schluchter): der Arbeit am Grundriß der Sozialökonomik (besser bekannt unter der Bezeichnung Wirtschaft und Gesellsch aft ) sowie den Forschungen zur Wirtschaftsethik der Weltreligionen . In diesen Arbeiten ist Max Webers Forschungsprogramm in toto sichtbar. Prägnanten Ausdruck fand dieses Programm in der Vorbemerkung zu den Gesammelten Aufsätzen zur Religionssoziologie . Hi eraus ergibt sich für die Arbeit eine erste These:

1. These: Man kann hinsichtlich der Arbeiten von Max Weber von einem einzigen zusammenhängenden, durchgehaltenen Forschungsprogramm sprechen, das in sich eine klare Entwicklungsperspektive beinhaltet; es i st gegliedert in drei Arbeitsphasen mit einem methodologischen ersten Durchbruch um 1902/03 sowie einem zweiten theoretischen Durchbruch um das Jahr 1910.

Aber noch eine zweite These läßt sich aus dieser Prämisse ableiten: sie betrifft die von Schluchter, aber auch von Tenbruck und Hennis geforderte genetisch – kontextuelle Erschließung des Werks. Wenn man im c.w. von einer durchgehaltenen Entwicklungsperspektive ausgehen kann, ist man gezwungen, sofern nicht im Einzelfall starke Argumente dagegen sprechen, im Fall der bei Weber recht häufig vorkommenden Überarbeitungen, ja: Drittfassungen von Schriften generell (a) auf die Erstfassung zurückzugreifen, sowie (b) gerade aus dem Vergleich der verschiedenen Fassungen – insbesondere dann, wenn sie unterschiedlich en Schaffensperioden zugehören – die Entwicklung von Max Webers Forschungsprogramm zu erheben.

6 „Für Weber bedeutete diese Erkenntnis der Besonderheit des okzidentalen Rationalismus und der ihm zugefallenen Rol le für die abendländische Kultur eine seiner wichtigsten Entdeckungen. Infolge davon erweitert sich seine ursprüngliche Fragestellung nach dem Verhältnis von Religion und Wirtschaft nun zu der noch umfassenderen, nach der Eigenart der ganzen abendländische n Kultur.“ (Lebensbild, S. 349 ).

2 These: Gerade an den Überarbeitungen der Schriften kann man die Entwicklung des Forschungsprogramms von Max Weber verifizieren.

Es ist aus dieser Sicht also u nzulässig, ex post auf das Gesamtwerk von Max Weber zuzugreifen, da man sich hiermit ein Verständnis des Werks gerade verschließt – deutlich zu verifizieren an der Rezeption der »Protestantische Ethik«. Die vorliegende Arbeit fühlt sich insofern einem gene tisch – kontextualistischen Ansatz (Tenbruck 1959; Riesebrodt 1985) verpflichtet: Max Webers Einsichten sind nicht vom Himmel gefallen, er stand in vielfältigen Überlieferungstraditionen.

b) Zweite Prämisse: Es gibt keine „Theorie der Rationalisierung“ bei Weber (Kaesler)

Eine weitere Hypothese der folgenden Untersuchung soll die unlängst von Dirk Kaesler (Kaesler 1999: 190ff.) vorgelegte Zusammenfassung der »Vision« von Max Weber hinsichtlich der fortschreitenden Rationalisierung der Moderne sein; sie läßt sich folgendermaßen charakterisieren:

  1. Es gibt bei Max Weber keine isolierte »Theorie der Rationalisierung«, vielmehr hat Max Weber höchst heterogene Phänomene aus sehr divergenten Perspektiven unter die von ihm gewählte Kategorie „Rationalisierung“ zuordn en versucht, „weswegen es als wenig sinnvoll erscheint, »das« Konzept »der« Rationalisierung bei Max Weber zu formulieren“ (S. 198). Anm.jum: In seiner älteren Darstellung in Kaesler 1978 sprach Kaesler selbst noch von einer „Theorie der Rationalisierung“ – wenn auch lediglich in Gänsefüßchen. Vgl. KAESLER 1978: 101.
  2. Wohl aber ist Ergebnis von Webers Forschungsprogramm die Einsicht in einen universalen und unaufhaltsamen Prozeß der Rationalisierung sämtlicher Lebensbereiche „in allen Kulturen und zu allen Z eiten“ (S. 197), dessen Genese im Spannungsfeld zwischen (asketischem) Protestantismus, Kapitalismus und fortschreitender Rationalisierung zu suchen ist: „Wer von Max Webers »Theorie der Rationalisierung« reden will, darf vom Kapitalismus nicht schweigen ( S. 190) – Wer vom Kapitalismus reden will, darf vom Protestantismus nicht schweigen (S. 194) – Wer vom protestantisch geprägten Kapitalismus reden will, darf vom Prozeß der Rationalisierung nicht schweigen (S. 197).“ –
  3. Ausgangspunkt der Forschungen von Ma x Weber ist die Frage nach Ursprüngen und Auswirkungen des Kapitalismus; diese Fragestellung veränderte sich – ungewollt! – im Zuge der Beschäftigung mit den Weltreligionen. (S. 197).
  4. Der Begriff der »Rationalisierung« ist „die gemeinsame Formel“, also der Oberbegriff für eine Vielzahl von „Manifestationen“ und „Teilprozesse“, die Weber „abwechselnd »Bürokratisierung«, »Industrialisierung«, »Intellektualisierung«, »Entwicklung des rationalen Betriebskapitalismus«, »Spezialisierung«, »Versachlichung«, »Method isierung«, »Disziplinierung«, »Entzauberung«, »Säkularisierung« oder »Entmenschlichung« nannte“ (S. 198).

Zur Erläuterung: dieser Ansatz hat methodische und methodologische Folgen für die Gestaltung der vorliegenden Untersuchung: Kaeslers These ist natür lich umstritten und bedarf im weiteren Verlauf der Verifizierung.

Ich fasse diesen Ansatz folgendermaßen zusammen:

3. These: Es macht wenig Sinn, allein im Werk Max Webers allein darauf zu achten, wo er explizit von Rationalisierung redet: der Sache nach ist von Rationalisierung auch dort die Rede, wo Max Weber von »Ordnung«, »Spezialisierung«, »Disziplinierung« usw. (s.o.) spricht….

4. These: Webers Anschauung über den Prozeß der Rationalisierung ist darüber hinausgehend sogar eher dort zusuchen, wo er sich mit eigenständigen Wertspären (= Lebenswelten, Subsystemen usw. ) beschäftigt als dort, wo er die großen Linien zeichnet.

2) Zur Frage nach dem Zusammenhang von Biographie und Werk

Schluchter geht davon aus, daß allein eine dreistufige Annäherung a n das Werk von Max Weber zu einer adäquaten Rezeption führen kann: die Berücksichtigung der Problem – und Werkgeschichte (1.), die Verbindung historischer Forschung mit einem systematischem Interesse bis in die Biographie hinein (2.), eine Relativierung der Trennung zwischen wissenschaftlicher Betrachtung und weltanschaulicher Wertung (Schluchter 1988a, S. 16). Hierbei ist speziell die Frage nach dem Zusammenhang von Person und Werk bei Max Weber eine beliebte Forschungsfrage (vgl. Mikl – Horke 1997, S. 274). 7

Es kann in der Soziologie die Verbindung von Person und Werk bei der Rekonstruktion des Werkes eines Klassikers nicht strittig sein: immer sind Person und Werk eines Forschers auch ein Stück Sozialgeschichte (vgl. Mikl – Horke 1997, S. 276). Aber darüber h inaus sind immer auch die wissenschaftsexternen Faktoren der Theoriebildung zu berücksichtigen (dazu s.u.). – Die biographischen Details sind im Fall von Max Weber wichtig genug: Webers als „Rationalisierung“ bezeichnete Vision der Moderne (Kaesler1999: 190 ) ist nicht Ausgangs – , sondern Endpunkt von Max Webers Forschungsprogramm.; dieses Forschungsprogramm veränderte aufgrund biographischer Sonderheiten mehrfach seine Gestalt. Hinzu kommt, daß Webers Ausgangsfrage nach Gestalt und Zukunft des Kapitalismus ei ne milieuspezifische Fragestellung der deutschen Bourgeoise seiner Zeit war (vgl. Kaesler 1999, S. 192 f.); sie war begründet in der ungeheuren Dynamik, die die industriekapitalistische Wirtschaft seit dem Take Off (W.W. Rostow) entfaltete. Ihre Eigenarten aber entfaltete Webers Arbeit gerade dort, wo sie von den typischen Antworten abwich.

Webers Biographie – in ihren äußeren Daten hinlänglich bekannt (vgl. dazu ausführlich Kaesler 1978, S. 40 ff.; zum unbefriedigenden Forschungsstand hinsichtlich der inneren Aspekte der Biographie vgl. Kaesler 1989, S. 29 ff.) – wird im folgenden berücksichtigt lediglich insoweit, als hiervon die Entwicklung von Max Webers Forschungsprogramm beeinflußt ist. Hieraus ergibt sich:

5. These: Das, was Max Weber zum Problem de r Rationalisierung geschrieben und gesagt hat, ist verständlich allein auf dem Hintergrund seiner Einbettung in einen biographischen, werkgeschichtlichen und ideengeschichtlichen Zusammenhang, dann aber weiterhin auch in das Milieu, dem Weber entstammte: d ie deutsche Bourgeoise des  9 Wilhelminischen Zeitalters sowie des weiteren der kapitalistischen Weltwirtschaft seiner Zeit.

6. These: Der systematischen Interpretation geht die werkgeschichtliche Einordnung voraus. 7. These: Es ist jede analysierte Einzelsc hrift Webers ist in das Raster der einzelnen Phasen des Forschungsprogramms einzuordnen.

7 Mikl – Horke (1997, S. 274) vermutet, daß hierfür nicht allein Webers Lebensgeschichte ausschlaggebend sei, sondern daß „… sich in seinen persönlichen lebensgeschichtlichen Umständen Probleme und Krisen ausdrücken, die viele Sozialwissenschaftler als Lehrende in einem sich selbst reproduzierenden und überregulierten akademischen Betrieb und als Forschende innerhalb einer dynamischen soziopolitischen Umwelt auch heute haben.“

3) Quantifizierende Elemente der Untersuchung

Die Werke Max Webers liegen nunmehr fast vollständig auf einer CD vor (wenn auch allein in lizensfreien Versionen); es fehlt allein die – posthum nach Mitschriften veröffentlichte – Wirtschaftsgeschichte; das ist bedauerlich deshalb, weil sie – bei allen methodischen Vorbehalten (sie ist eine unauthorisierte Nachschrift einer Vorlesung) – zu den Spätschriften gehört, in de nen Webers Forschungsprogramm in toto präsent ist und er auch hier die scharfe Trennung zwischen formaler und materialer Rationalisierung (vgl. WuG) gebraucht hat.

Die CD erlaubt nun auch eine quantifizierende Betrachtung des corpus weberianum. Auf zwei W egen soll hier davon Gebrauch gemacht werden:

  1. Es soll das Vorkommen des Wortfeldes »rational« mit all seinen Derivaten: »rational*« – eine sog. Trunkierung – dokumentiert werden. Gewissermaßen im Umkehrschluß soll zusätzlich das Wortfeld »*rational*«, das also insbesondere das Wortfeld »irrational« mit all seinen Umschreibungen und Ableitungen erschließt ( Anm.jum: Es ist hierbei zu beachten, daß mit dieser Methode nicht nur die Worte »wertrational*«, »zweckrational*« usw. erfaßt werden, sondern auch etwa die Begriffe XXX!), erhoben werden. Um die Texte kommensurabel zu machen, wird das jeweilige Ergebnis auf die Wortzahl des betreffenden Textes bezogen und weiterhin – der Übersichtlichkeit wegen – mit dem Faktor 1.000 multipliziert. Im Ergebnis ergibt sich für beide Wortfelder eine Maßzahl, die das Auftreten der beiden Wortfelder dokumentiert und Vergleiche ermöglicht (wobei das Wortfeld »rational*« im Wortfeld »*rational*« enthalten ist).
  2. In zumindest einem Fall soll ein gehäuftes Auftreten des Wortfeldes »*rational*« – hier nun unabhängig von einer Gewichtung durch die Anzahl der Worte – zu einer eingehenderen Analyse des Textes führen. (Anm.jum: ???)
  3. Der Begriff der »Ratio« ist in diesem Raster nicht erfaßt; er wird gesondert analysiert.

Die Grenzen ein es solchen Vorgehens sind offenkundig: wenn die These von Kaesler 1999 zutrifft, daß der »späte« Weber seine Rationalisierungsthesen gar nicht unter dem Begriff »rational« faßte, dann wird möglicherweise Entscheidendes bei solch einem Verfahren nicht erkan nt. Zumindest müßte man dann das Vorkommen der Äquivalente (»Systematisierung«, »Bürokratisierung«, »Ethisierung«, »Technisierung« usw.) zusätzlich erfassen – und selbst dann könnte die Quantifizierung eine qualitativ vorgehende, exegetische Methode nicht ersetzen. Dennoch: erste »Suchaufträge« kann eine solche simple Quantifizierung durchaus leisten.

Zur Orientierung seien einige Ergebnisse hier im vorhinein präsentiert:

Kriterium: hoher relativer Wert pro Abschnitt

Textteil WuG Teil I, Kapitel II § 13
Worte 424
Suchwort rational* 12
Maßzahl 28,30
Suchwort *rational* 13
Maßzahl 30,66

Der höchste relative Wert im c.w.: ein kleiner Wortbestand, die Thematik erfordert die Verwendung des Wortfeldes: Bedingungen der formalen Rationalität der Geldrechnung. Jedes 33. Wort beinhaltet den Wortstamm *rational*.

Kriterium: hoher absoluter Wert pro Gesamtschrift / größerer Abschnitt einer Schrift

Titel Worte Suchwort rational* Maßzahl Suchwort *rational* Maßzahl
Protestantische Ethik (1904/05) 77.963 123 1,58 148 1,90
Musiksoziologie (um 1910) 29.084 82 2,82 131 4,50
Kategorienaufsatz (1913) 14.528 71 4,89 146 10,05
WEWR: I. Konfuzianismus und
Taoismus (1915)
89.608 184 2,05 216 2,41
WuG, I. Teil, Kap.II. 46.026 187 4,06 237 5,15

Mit Ausnahme der Protestantischen Ethik gehören die Schriften in die dritte Schaffensperiode.

Kriterium: hohe relativer Wert pro Gesamtschrift

Titel Worte Suchwort rational* Maßzahl Suchwort *rational* Maßzahl
Kategorienaufsatz (1913) 14.528 71 4,89 146 10,05
Zwischenbetrachtung (1915) 11.875 101 8,51 125 10,53
„Vorbemerkung“ (1919) 4.730 61 12,90 66 13,95

Hier werden die Schriften präsentiert, die insgesamt die höchsten Zähler erreicht. Die letzte Schrift, nämlich die Vorbemerkung (1919), erreicht auch die höchsten Werte. Alle diese Schriften entstammen der letzten Werkphase. – Die Ergebnisse der übrigen Schriften sind anhangsweise in Auswahl angeführt; dieser Auswahl lagen zugrunde die Kriterien einer Gesamtbedeutung der Schrift für das c.w. (1.), hohe absolute Trefferzahl (2.) sowie hohe relative Trefferzahl (3.)

Es ergibt sich eine weitere These:

8. These: Eine quantifizierende Exegese des Wortstammes »rational« und seiner Derivate im corpus weberianum ersetzt nicht die qualitative Inhaltsanalyse, sondern allein eine orientie rende Feststellung; der Sache nach ist von Rationalisierung auch dort die Rede, wo Max Weber von »Spezialisierung«, »Disziplinierung« usw. (s.o.) spricht….

4) Methodologische Aspekte der Untersuchung

Jede theoriegeleitete Arbeit muß sich Rechenschaft geben über ihre Grundbegriffe und ihre theoretischen bzw. wissenschaftstheoretischen Grundentscheidungen:

„Auch der gewöhnliche und mittelmäßige Geschichtsschreiber, der etwa meint und vorgibt, er verhalte sich nur aufnehmend, nur dem Gegebenen sich hingebend, ist nicht passiv mit seinem Denken und bringt Kategorien mit und sieht durch sie das Vorhandene.“ (Hegel 1961, S. 37, zit. bei Wehler 1996, S. 12)

Es ist dies die Frage nach der Metatheorie, nach der Methodologie (ihr Handwerkszeug ! vgl. WL, S. 549). Es zeigte sich bereits in der grundlegenden Hypothese von Kaesler (1999), daß etwa die Strukturbegriffe Theorie , Konzept bzw. These durchaus unterschiedlich verwendet werden. Im folgenden sollen hier für die folgende Arbeit einige Klarstellungen, wo immer möglich, von Max Weber selbst hergeleitet, eingeführt werden – ganz im Sinne von Weber, der selbst immer wieder Nominaldefinitionen bevorzugte (die berühmte Formel soll heißen ; WuG, S. 1; vgl. auch etwa RS I, S. 4), die niemals richtig oder falsch , wohl aber zweckmäßig bzw. unzweckmäßig sein können; im Methodenstreit zwischen historischer und theoretischer Nationalökonomie (dazu s.u.) waren zu seiner Zeit all diese Probleme Gegenstand der Auseinandersetzung (vgl. dazu etwa WL, S. 160f.).

Man muß hier vor allem Max Webers Begriffsbildung und sein Theorieverständnis kennen. Zur Begriffbildung: Weber hat immer wieder scharfe Begriffe gefordert, und das sind für ihn: klare Begriffe (vgl. etwa WL, S. 175). Grundlegend ist hier Webers Unterscheidung zwischen natur wissenschaftlicher und historischer Begriffsbildung. Ausführlich geäußert hat sich zu dieser Thematik Weber zuerst im ersten Teil des Roscher/Knies – Aufsatzes (WL, S. 3 ff.) und dann immer wieder, wenn es die konkrete Auseinandersetzung erforderte, in den m ethodologischen Schriften, aber z.B. auch in der »Protestantischen Ethik«, wo er anhand des Begriffes »Geist« des Kapitalismus 8 seine »Begriffslehre« entfaltet: Max Weber kennt zum einen abstrakte Gattungsbegriffe („»genus proximum, differentia specifica« definiert (zu deutsch: »abgegrenzt«)“: RS I, S. 30 f.) bzw. Allgemeinbegriffe (WL, S. 5. 178 f.), die die Wirklichkeit »einschachteln«: die Methode der Klassifizierung . Sie gehören wesentlich zur naturwissenschaftlichen Begriffsbildung, die abstrakt – deduzi erend Gesetze (Relationsbegriffe von genereller Geltung; WL, S. 5) aufstellt. – 9

Daselbst hat Max Weber bereits darauf verwiesen, daß aus eben diesem Grunde Gattungsbegriffe für die historischen Wissenschaften unbrauchbar sind, weil sich das »Wesen« des hi storischen Individuums (vgl. dazu etwa RS I, S. 30: „ein Komplex von Zusammenhängen in der geschichtlichen Wirklichkeit, die wir unter dem Gesichtspunkte ihrer Kulturbedeutung begrifflich zu einem Ganzen zusammenschließen“; ähnlich auch im Objektivitätsauf satz ; vgl. BELEG!) einer gesetzmäßig deduzierenden Methodik nicht erschließt: der Einzelfall, nicht aber das Generelle ist entscheidend (WL, S. 5 f. u.ö.)!

Dem stellt Weber gegenüber die historische Begriffsbildung (WL, S. 11; vgl. RS I, S. 30) und das typologische Verfahren der idealtypischen Begriffsbildung (ab dem Objektivitätsaufsatz von 1904). 10 Hier kann nicht »definiert«, sondern lediglich »veranschaulicht«, »entwickelt« (eine gedankliche Konstruktion : WL, S. 201) und komponiert (RS I, S. 30) werden aus Gesichtpunkten, die den Forscher interessieren (deshalb auch ist auch die Erfahrung des Forschers und seine Kenntnis der kulturgeschichtlich relevanten Sachverhalte so bedeutungsvoll; vgl. dazu etwa WL, S. 179). Diese Gesichtspunkte sind zwar nicht beliebig , wohl aber variabel (WL, S. 184): allein ihre theoretische Fruchtbarkeit unter ganz spezifischen Gesichtspunkten entscheidet über ihre Brauchbarkeit; sie wandeln sich im Laufe der Zeit, modern gesprochen: in dem Maße, in dem sich die Paradigmata (Kuhn 1976) verändern; in diesen Zusammenhang gehören auch Max Webers Bemerkungen über die ewige Jugendlichkeit der Sozialwissenschaften (WL, S. 205 f.): die Gesichtspunkte wandeln sich und damit auch die Begrifflichkeit. – Das Verständnis vom Idealtypus weitet sich bei Max Weber dann allerdings in der 3. Werkphase aus, 11 was hier noch nicht interessiert.

8 Die Gänsefüßchen läßt Max Weber hierbei in der Überarbeitung der Schrift fort! Vgl. Weber 2000, S. 1 und RS I, S. 17. – Das sind übrigens – hier wie anderswo bei Max Weber keine philologischen Spitzfindigkeiten, sondern Anzeichen für eine gewandelte methodologische Einsicht (dazu s.u.). 9 Sie bilden aber auch einen unabdingbaren Bestandteil der historischen Wissenschaften, insofern sie nomologischer Kenntnisse bedarf; vgl. WL, S. 179. 10 Im ersten Teil des Roscher/Knies – Aufsatzes kennt Max Weber noch keine Idealtypen; er spricht hier von der „Bildung von Relationsbegriffen mit stets größerem Inhalt und deshalb stets kleinerem Umfang“ und erläutert sie als „Begriffe, welche die konkrete historische Erscheinung einem konkreten und individuellen, aber möglichst universellen Zusammenhang einordnen “ (WL, S. 6 Anm. 4; Hervorhebung durch jum) – eine Art verfeinerte Gattungsbegriffe! Ab dem Objektivitätsaufsatz kennt Max Weber dann die Utopie (WL, S. 191 – der Begriff ist wörtlich zu nehmen: der Idealtypus hat keinen Platz auf der »historischen Landkarte« bzw. d er Wirklichkeit der Kulturwissenschaften).

Karl – Dieter Opp (Opp 1969, S. 1080 ff.) hat einmal vier unterschiedliche Verwendungsweisen des Wortes soziologische Theorie vorgeschlagen: den (gelegentlich auch als positivistisch bezeichneten) Theoriebegriff „der modernen Wissenschaftstheorie“, der ein Gesetzesverständnis als einen „Zusammenhang von empirisch intersubjektiv falsifizierbaren wenn – dann – oder je – desto – Sätzen“ in Anlehnung an den naturwissenschaft lichen Gesetzesbegriff beinhaltet – so wird der Theoriebegriff etwa im Kritischen Rationalismus verwendet (1.), den – vornehmlich im Strukturfunktionalismus gebräuchlichen – Theoriebegriff im Sinne eines Kategoriensystems , „das alle vom Schöpfer des System s als soziologisch relevant erachtete Tatbestände erfassen soll“ (2.), drittens einen – mit Blick auf die Frankfurter Schule bzw. Kritische Theorie formulierten – Theoriebegriff, demzufolge eine Theorie „»Gesetze« über die geschichtliche Entwicklung enthalten solle“ (Hervorhebung durch jum) (3.) sowie abschließend einen geisteswissenschaftlichen Theoriebegriff , der den strengen Anforderungen der Soziologie nicht standhalte, weil er „Werturteile, Aussagen mit vagen Begriffen und mit unklaren Beziehungen zwi schen den Begriffen“ zulasse (4.). – Folgt man der hiermit vorgeschlagenen Differenzierung an dieser Stelle, so läßt sich für Max Weber feststellen, daß er alle vier Theoriebegriffe kennt, aber letztlich nur einen, nämlich den naturwissenschaftlichen Theori ebegriff (1.), für die Sozialwissenschaften zuläßt – wobei er den unter (2.) vorgeschlagenen Theoriebegriff unter (1.) subsumiert – , und den auch nur in eingeschränktem Sinne. Dies sei im folgenden näher erläutert.

Zunächst sei hier der unter (4.) erwähn te Theoriebegriff auf das Problem der Werturteile hin zugespitzt und aus der Betrachtung ausgeschieden: Weber kennt das Problem präskriptiver Aussagen in den Sozialwissenschaften und hält sie für andere Wissenschaften – übrigens selbst für empirische Wisse nschaften: WL, S. 486! – sogar für unverzichtbar: etwa für die Kunst, wo man ohne ästhetische Kategorien nicht auskommt. Und für die Politik: und hier wird sie sofort auch zu einem massiven Problem, wie sich etwa noch im Titel des Archivs zeigt: das Brauns che Archiv, das Jaffé 1904 gekauft und mit Weber und Sombart zusammen herausgab, hieß nämlich Archiv für Sozialwissenschaft und Sozialpolitik – hatte also eine deutlich werturteilsbezogene Komponente (vgl. dazu Hennis 1987, S. 129). Weber reflektiert anläß lich der Übernahme der Zeitschrift im Gleitwort ausdrücklich dieses Problem (WL, S. 147). – Für die sozialwissenschaftliche Forschung sind Werturteile nach Max Webers Auffassung zwar ständige Versuchung (WL, S. 204), sie sind aber strikt auszuscheiden (dazu s.u.).

11 Später wird aus der Utopie – auch – ein Realtypus ; vgl. RS I, S. 537, angelegt bereits im Jahre 1904 im Gedanken vom vielfach normativen Charakter der Idealtypen: WL, S. 196; hier aber sind diese Ideen noch Wer turteile (WL, S. 199, z.B.: das Wesen des Christentums ; zum Problem insgesamt s.u.

Historische und theoretische Arbeit sind für Max Weber nicht identisch (vgl. WL, S. 165, wo Weber zwischen historischer , statistischer und theoretischer Arbeit unterscheidet; WL, S. 187 bezeichnet Max Weber das Verhältnis als problematisch ): das w äre für seine Zeit allein schon aufgrund des schwelenden Methodenstreits in der Nationalökonomie (dazu s.u.) undenkbar gewesen (WL, S. 187).

Zum Problem der Bedeutung theoretischer Arbeit in den Kulturwissenschaften äußert sich Max Weber grundsätzlich im zweiten Teil des Objektivitätsaufsatzes (WL, S. 185 ff.); 12 hier interpretiert er die Gesetze der Theorie auf dem Gebiet der Kulturwissenschaften im Sinne von Idealtypen (vor allem WL, S. 190 ff.; so etwa auch die Marx ´schen »Gesetze«; vgl. WL, S. 205), als einen Spezialfall der historischen Begriffsbildung (WL, S. 189); insofern sind aber auch die historischen Begriffen (Idealtypen) selbst wiederum Theorie: „ ein theoretischer , also »einseitiger« Gesichtspunkt, unter dem die Wirklichkeit beleuchtet, auf den sie bezogen werden kann“ (WL, S. 206 f.; Hervorhebung durch jum). Theorie ist ebenfalls die Darstellung empirisch vorkommender Ideen ( vgl. WL, S. 195 f.; Weber benennt etwa die Dogmatik Calvins als Beispiel) in logisch zusammenhängender Struktur (WL, S. 1 97 f.) innerhalb der Kulturwissenschaften. – Insoweit kann man also bei Weber auch zwischen einer engen und einem weiten Fassung des Theoriebegriffs unterscheiden: 13 zum engeren Theorieverständnis gehören etwa die volkswirtschaftlichen Gesetze (vgl. etwa RS I, S. 45 Anm. 14), in weitem Verständnis ist die idealtypische Begriffsbildung Theorie; hier ist sie eben nur Mittel (WL, S. 193), nicht Ziel sozialwissenschaftlicher Forschung.

Konstruiert man nun darüber hinaus Idealtypen als idealtypische Entwicklungsl inien – die wiederum streng zu scheiden sind von der historischen Realität (WL, S. 204) – , dann hat man jene „unendliche Verschlungenheit der begrifflich – methodischen Probleme“ (WL, S. 205), über die selbst Weber stöhnt. Verständlich wird all dies allein d ann, wenn man sich stets die grundlegenden Differenzierungen von Max Weber vergegenwärtigt:

„ Nichts aber ist allerdings gefährlicher, als die, naturalistischen Vorurteilen entstammende, Vermischung von Theorie und Geschichte, sei es in der Form, daß man g laubt, in jenen theoretischen Begriffsbildern den »eigentlichen« Gehalt, das »Wesen« der geschichtlichen Wirklichkeit fixiert zu haben, oder daß man sie als ein Prokrustesbett benutzt, in welches die Geschichte hineingezwängt werden soll, oder daß man gar die »Ideen« als eine hinter der Flucht der Erscheinungen stehende »eigentliche« Wirklichkeit, als reale »Kräfte« hypostasiert, die sich in der Geschichte auswirkten.“ (WL, S. 195).

Vergleicht man Webers Auffassungen mit heutigem Theorieverständnis, so zei gt sich, daß Weber sehr wohl – der Sache nach! – die D – N – Erklärung ( deduktiv – nomologische Erklärung ; vgl. dazu etwa Schnell et al. 1993, S. 48 ff.) kennt; dem Inhalt nach kennt er auch statistische Gesetze , soweit sie damals bekannt waren (dazu s.u.; die s og. I – S – Erklärung : induktiv – statistische bzw. probabilistische Erklärung; a.a.O., 56 f.); sein eigener theoretischer Ansatz aber folgt eher – nach heutigen Maßstäben – dem interpretativen Paradigma (Wilson 1982). Dazu weiter unten. 14

12 Im Objektivitätsaufsatz ( WL, S. 171 ff.) setzt Weber sich mit dem – auch in der damaligen theoretischen Nationalökonomie verbreiteten – positivistischen Theoriebegriff au seinander, demzufolge Theorie aus einem „System von Lehrsätzen“ bestehe, aus denen die Wirklichkeit rubriziert werden könne: die „Analyse der Wirklichkeit auf Gesetze und ihrer Ordnung in generellen Begriffen“ (WL, S. 176). Dies habe für die Kulturwissensc haften keine Gültigkeit, da ihr Erkenntnisinteresse anders gelagert sei, nämlich auf „historischen Individuen“ beruhe. – Zum Begriff der Theorie im Sinne von Max Weber: vgl. auch Lebensbild, S. 315 (a.v. Objektivitätsaufsatz ). 13 Zur engeren Fassung des Theo riebegriffs bei Weber vgl. auch Schluchter 1988a, S. 125 Anm. 25: Weber sagt an der zitierten Stelle, er habe zur Theorie der Nationalökonomie nichts beitragen können. Hier ist der Begriff terminus technicus der nationalökonomischen Dogmengeschichte: er di ent zur Kennzeichnung der Unterscheidung zwischen einer historischen (Schmoller) und theoretischen Richtung (Menger) innerhalb der Nationalökonomie.

5) Zum wissenschaftstheoretischen Horizont der Arbeit

Kneer (1996, S. 27 ff.) hat auf die Bedeutung differierender Paradigmata in der soziologischen Theorie hingewiesen; den Begriff hat Thomas Kuhn in die wissenschaftstheoretische Diskussion eingeführt (vgl. Kuhn 1976); er hat seine Auffassung einer „diskontinuierlichen, über Brüche und Sprünge verlaufenden Entwicklung des wissenschaftlichen Wissens“ (Kneer 1996, S. 28) allerdings nicht in sozialwissenschaftlichen Beispielen verankert; vor allen Dingen wird seine Konzeption ein er – zwischen wissenschaftlichen Revolutionen angesiedelten – Normalwissenschaft dem Theorien – Pluralismus innerhalb der Sozialwissenschaften nicht gerecht (a.a.O., S. 28); insofern ist seine Intention sicherlich nicht in Gänze getroffen, wenn man seinen – ohnehin aufgrund mangelnder Präzision heftig kritisierten – Begriff das Paradigmas zur Kennzeichnung unterschiedlicher soziologischer Metatheorien verwendet.

Kneer identifiziert hierbei – nach »Überwindung« des subjektbezogenen Paradigmas (Kneer 1996, S. 27; er spricht in diesem Zusammenhang von einem Paradigmenwechsel in der Soziologie; vgl. das. S. 28) – insgesamt drei konkurrierende Paradigmata, nämlich:

  1. den methodologischen Individualismus – gewissermaßen die »Fossilien« aus vergangenen Zeiten (a.a.O., S. 28; dazu gehören allerdings auch neuere Ansätze, etwa die Rational – Choice – Theorie),
  2. das kommunkationstheoretische Pardigma (Kneer 1996, S. 34), sowie
  3. systemtheoretische Ansätze verschiedener Provenienz, vor allem: die Theorie autopoietischer Systeme (K neer 1996, S. 34).

Die letztgenannten beiden Ansätze in Gestalt der Großtheorien von Habermas und Luhmann sollen auch im folgenden mit Max Webers Sicht konfrontiert werden. – Man könnte darüber hinausgehend erwägen, zusätzlich ein postmodernes Paradigma zu etablieren; aber diese Frage scheint nicht vordringlich. Wichtiger erscheint vielmehr die Überlegung, daß man bei Kuhn von einer Soziologisierung wissenschaftlicher Theoriebildung sprechen kann (Kuhn 1976, S. 106 ff.), von einer Kontextualisierung wissensc haftlicher Revolutionen und einer

„… Schwerpunktverschiebung von internen zu externen Bestimmungsfaktoren von Theorienbildung und – ausbreitung, die eine Soziologisierung der Wissenschaftsgeschichte einerseits, eine Neubewertung metaphysischer Elemente a ndererseits impliziert.“ (Grabas 1997, S. 4)

Von daher kann man zunächst einmal einen Ansatz, der versucht, das Werk Max Webers im Horizont seiner Biographie und seines Entstehungsmilieus genetisch – kontextuell zu interpretieren, wissenschaftstheoretisch z uordnen; aber nicht allein externe Faktoren (Kuhn) entscheiden über Theoriebildung und – ausbreitung – ebensowenig wie wissenschaftsinterne Faktoren allein, die Grabas im wissenschaftstheoretischen Ansatz von Popper (vor allem: Popper 1973 und Popper 1992) 15 mit seinem Falsifikationsgebot realisiert sieht (Grabas 1997, S. 2 ff.) – sondern erst der Versuch einer wissenschaftstheoretischen Synthese , wie er sich im Werk von Imre Latakos findet (Lakatos 1974):

„Gemeint ist der Lakatosianische Ansatz einer Methodo logie von wissenschaftlichen Forschungsprogrammen, der durch eine Synthese des soziologischen Paradigmenansatzes von Thomas Kuhn und dem Logikansatz von Karl Popper gekennzeichnet ist. Demnach verläuft die Geschichte der Wissenschaft weder als Wechsel von zueinander eher unverbundenen Paradigmen a lá Kuhn, zusammengehalten jeweils durch ein divergierendes Set von gemeinsamen methodologischen Auffassungen, Normen, Regeln sowie von Werten und Überzeugungen. Die Geschichte der Wissenschaft verläuft aber ebenso wenig als Prozeß eines auf permanenten Falsifizierungen basierenden rationalen Voranschreitens a lá Popper, sondern statt dessen eher in Form von unterschiedlichen, aber nicht unbedingt gegensätzlichen Forschungsprogrammen. (Grabas 1997, S. 4 f.)

14 Die neueren Diskussionen um partielle Erklärungen usw. (vgl. dazu etwa Schnell et al. 1993, S. 59) sind Weber selbstverständlich unbekannt; dazu gehört auch die Verstehen – Erklären – Dichotomie (v. Wright 1974), die in ihren methodologischen Implikationen weit hinausgeht über die ja letztlich doch schlichte Lösung des Problems bei Weber (vgl. etwa W L, S. 193: Idealtypen als Mittel sozialwissenschaftlicher Forschung).

Hinter diesem Ansatz einer auf der Unterscheidung zwischen hard core und protecting belt basierenden Klassikerrezeption steht Lakatos ´ Abgrenzung einer negativen Heuristik (vgl. Lakatos 1974, S. 129 ff.), also Forschungswege, die man vermeiden soll, von einer posi tiven Heuristik : der Modifikationen bzw. Konstruktionen von Hilfshypothesen (wenn ein Forscher eine positive Heuristik besitzt, dann „ermutigt ihn das JA der Natur, ihr NEIN aber entmutigt ihn nicht“; Lakatos 1974, S. 132 Anm. 168). Lakatos geht davon aus, daß man wissenschaftliche Forschungsprogramme 16 durch ihren harten Kern charakterisieren kann, der empirisch fundiert ist, aber auch metaphysische Elemente – dazu gehören auch Visionen – und unüberprüfte „allgemein akzeptierte Erkenntnisse()“ (Grabas 1997, S. 5) enthält und mit einer Reihe von Hilfshypothesen verbunden ist (der sog. Schutzgürtel ), deren Widerlegung nicht automatisch schon das Fallenlassen der gesamten Theorie beinhaltet (z.B.: Newtons Gravitationstheorie). Forschungsprogramme (und damit eben auch deren metaphysische Implikationen) werden beibehalten, wenn Angriffe auf die Theorie zu einer gehaltvollen Revision des Forschungsprogramms führen, sieht man auf längere Dauer keine theorietechnischen Fortschritte, ist das Programm fallenzulassen. – Dieser – hier nur stichwortartig wiedergegebene – wissenschaftstheoretische Ansatz führt zur Konsequenz, daß konkurrierende Forschungsprogramme miteinander in Konkurrenz treten können: sie werden auf ihre Leistungsfähigkeit hin bewertet, nicht aber aufgrund logischer Anomalien (Schnell et al. 1993, S. 112) vorschnell verworfen. Somit wird Lakatos sowohl dem Anliegen von Kuhn gerecht, der aufgezeigt hat, daß viele Theorien trotz bekannter Anomalien nicht verworfen wurden (etwa das Ptolemäische System: vgl. Kuhn 1976, S. 81), als auch dem Anliegen von Popper, theorieimmante, rationale Aspekte zu betonen:

15 Grabas (1997, S. 2 f.) zeigt anschaulich auf, wie unter dem Einfluß des Kritischen Rationalismus in den Wirtschaftswissenschaften bis tief in die Krisenzeit der 70er Jahre hinein (Ölp reisschocks 1973/97) – und im „main – stream der Wirtschaftswissenschaft“ in Deutschland weithin noch bis zum heutigen Tag – das neoklassische Paradigma sich immer tiefer in theorieinterne Modifikationen mit „realitätsfernen Annahmen über angebliche Rational itätsentscheidungen der Akteure“ (a.a.O., S. 2) verstrickte, dabei aber zugleich den realen sozio – ökonomischen Problemen „ziemlich ratlos gegenübersteht“ – immer getreu dem Rezept von Popper: „»The more a theory forbids, the better it is«. Erklärungsbedürf tige Erscheinungen der ökonomischen Realität, wie z.B. steigende strukturelle Arbeitslosigkeit, ließen sich durch Beherzigung dieses methodologischen Prinzips mühelos über die Einführung restriktiver Annahmen als exogene Störfaktoren eines ansonsten zum Gleichgewicht tendierenden Marktsystems klassifizieren und damit aus dem modelltheoretischen Denken eliminieren.“ (Grabas 1997, S. 3).
16 Ein »wissenschaftliches Forschungsprogramm« im Sinne von Lakatos läßt sich mit Grabas (1997, S. 5) folgendermaßen charakterisieren: „Dabei versteht man unter einem Forschungsprogramm eine bestimmte Struktur von logisch rekonstruierbaren Theorieansätzen, die einerseits das Resultat des Verwerfens von logisch nicht mehr haltbaren Problemstellungen ist, die andererseits aber durch den sogenanten »hard core«, ein die Theorie letztlich in Form von Schutzgürteln zusammenhaltendes Set gemeinsamer, sich sowohl aus metaphysischen Elementen als [auch; jum] aus allgemein akzeptierten Erkenntnissen speisenden Überzeugungen geprägt wird. “

„Mit dieser Auffassung hat Lakatos zwar den Popperschen Fortschritts – und Rationalitätsansatz gewissermaßen in die Diskussion wieder zurückgeholt und damit, v or allem durch seine Betonung einer logischen Aspekten folgenden positiven Heuristik den primär soziologischen Ansatz von Kuhn relativiert. Doch in Abgrenzung zu Popper, hingegen in Übereinstimmung mit Kuhn, werden theorierelevante metaphysische sowie mora lphilosophische und ethische Glaubensbekenntnisse eindeutig nicht mehr als unwissenschaftlich diskriminiert. Damit erhält eine von Schumpeter […] wiederholt aufgestellte […] Forderung, Theorien aufgrund ihrer Prägung durch soziale und andere Visionen n icht zu verwerfen, […] eine wissenschaftsphilosophische Fundierung …“ (Grabas 1997, S. 5)

Grabas zieht aus dieser Sicht die Konsequenz, in der Rezeptionsgeschichte von wissenschaftlichen Theorien vor allem auch externe Faktoren zu berücksichtigen, ver änderte Moral – und Wertvorstellungen, ideologische und legitimatorische Interessen der gesellschaftlichen Rezipienten sowie den sozial – und wirtschaftsgeschichtlichen Hintergrund der Rezeption:

„Da diese [= die Ideologien; jum] in Wechselwirkung mit den im Zeitablauf variierenden Stabilitätsbedingungen sozio – ökonomischer Entwicklung stehen, muß demzufolge eine Rezeptionsanalyse wirtschafts – und sozialhistorische Wandlungsprozesse einschließen.“ (Grabas 1997, S. 5)

Die Fruchtbarkeit dieses Konzeptes versucht Grabas anschließend anhand eines Vergleichs der Rezeptionsgeschichte von Marx, Keynes und Schumpeter zu verdeutlichen. Eine Entscheidung zwischen differierenden metatheoretischen Grundentscheidungen herbeizuführen kann nun nicht Anspruch der vorliegenden Arbeit sein; whl aber hat der Verfasser einen Standpunkt , und dieser läßt sich skizzenhaft folgendermaßen umschreiben:

  • eher konflikttheoretisch als konsenstheoretisch orientiert,
  • eher handlungstheoretisch als sytemtheoretisch orientiert,
  • eher postmodern a ls modern – dies als Ergebnis der vorliegenden Arbeit,
  • eher dem methodologischen Individualismus verhaftet als dem konstruktivistischen Denken,
  • eher Rickert als Wittgenstein (oder Spencer – Brown).

Letztlich aber fallen die Grundentscheidungen immer in der Philosophie, präziser: in den der Erkenntnistheorie zugeordneten wissenschaftstheoretischen Grundentscheidungen.

Allerdings kann dieser Standpunkt nicht davon abhalten, Nutzen zu ziehen aus soziologischen Ansätzen, die diesen Grundentscheidungen wiederspre chen; dem entspricht ein letztlich pragmatistischer Ansatz, der im Einzelfall danach fragt, welches Paradigma besser geeignet ist, soziale Phänomene scharf zu beleuchten. Gerade wenn man anzuerkennen bereit ist, daß es auch die Visionen , also durchaus wiss enschaftsexterne Faktoren sind, die die Entdeckung, Entwicklung und Diffusion soziologischer Theorien und deren Rezeption beeinflussen – was durchaus nicht ausschließt, deren rationalen Gehalt anzuerkennen! – wird man eher dazu bereit sein, der »multiplen Paradigmatase« (Luhmann) innerhalb der sozialwissenschaftlichen Theoriebildung auch ihre vorteilhaften Seiten abzugewinnen und in divergierenden Theorieansätzen auch nach komplementären Sichtweisen suchen.

Es ist eines der mit der vorliegenden Untersuchung angestrebten Ziele, vor dem Hintergrund einer Einbettung des Weberschen Rationalisierungskonzeptes in seinen zeitgenössischen Kontext auch der Frage nachzugehen, inwieweit die mit der Unterscheidung zwischen hardcore – belief und protecting belt angesproch ene Differenzierung sinnvoll auf Max Webers Denken fruchtbar gemacht werden kann und zu sinnvollen Ergebnissen führt. Die darüber hinausgehende naheliegende Frage, inwieweit denn auch die Rezeption seines Werkes nun wiederum „in Wechselwirkung mit den im Z eitablauf variierenden Stabilitätsbedingungen sozio – ökonomischer Entwicklung“ (Grabas 1997, S. 5) steht, kann in diesem Rahmen nicht weiter verfolgt werden.