Zu meiner Fragestellung:

Die Theologie ist eine normative Wissenschaft. Sie macht die grundlegende Voraussetzung: daß es Gott gibt (… was auch immer das heißen mag! Die Antworten, auch die der Theologen, sind hier sehr unterschiedlich). Die modernen Wissenschaften – und zwar Natur- und Kulturwissenschaften gleichermaßen – verstehen sich als empirische Wissenschaften: ihre Methoden sind (a) diskursives Denken, (b) die systematische Beobachtung sowie (c) das rationale Experiment. Ihre Ergebnisse sind – bestenfalls – Tatsachen, oder aber: Theorien bzw. Hypothesen. Man kann diesen grundlegenden Unterschied auch als die Differenz zwischen einem metaphysischen und einem nicht-metaphysischen Denken charakterisieren.

Ich will auf dieser Seite weniger die geistesgeschichtliche Seite dieser Unterscheidung klären als vielmehr meine eigene Position darstellen – oder besser formuliert: umkreisen, mit allen notwendigen Unvollkommenheiten, die sich aus meiner Situation – nun nicht als Wissenschaftler, sondern als interessierter Laie und ehemaliger Pfarrer und Militärpfarrer – ergeben. Mir selbst stellt sich die Frage so: schließen sich Theologie und Soziologie nicht gegenseitig aus? Ist es überhaupt möglich, als Theologe Sozialwissenschaft zu treiben (und umgekehrt)? Dies jedenfalls ist mein Ziel: ich habe die Religion quasi mit der Muttermilch (in einem pietistisch orientierten Pfarrhaus) aufgesogen, Frömmigkeit ist mir eine natürliche Lebensäußerung, und insofern glaube ich an Gott – hier einmal so thetisch formuliert mit all den Fragwürdigkeiten, mit denen ein solcher Satz aus theologischer Sicht notwendigerweise behaftet ist – und zugleich treibe ich Sozialwissenschaften. Wie aber verträgt sich beides?

Die Fragestellung hat allerdings zugleich eine grundsätzliche Bedeutung. In einer klassischen Formulierung ausgedrückt: „Man kann nicht elektrisches Licht und Radioapparat benutzen, in Krankheitsfällen moderne medizinische und klinische Mittel in Anspruch nehmen und gleichzeitig an die Geister- und Wunderwelt des Neuen Testaments glauben.“ (R. Bultmann, Kerygma und Mythos I, Hamburg 1967, 5. Aufl. S. 18). Das aber ist exakt das, was ich nicht allein an mir selbst beobachte, sondern wie selbstverständlich auch bei ehemaligen Gemeindemitgliedern, die wie selbstverständlich allem möglichen esoterischen Unsinn anhingen; darüber hinaus sprechen starke Indizien dafür, daß es sich hierbei um ein Grundproblem des modernen Menschen handelt; vgl. hierzu etwa: Miriam Gebhardt, Rudolf Steiner. Ein moderner Prophet. München 1911, S. 79ff. – Rudolf Steiner (1861-1925), der Begründer der Anthroposophie, ist als ausgewiesener Wissenschaftler und Mitherausgeber einer Goetheausgabe, zugleich aber als Okkultist und jemand, der sich selbst als Hellseher bezeichnete, ein besonders anschauliches Beispiel für diesen Spagat …

Diese Fragestellung möchte ich hier behandeln als das Verhältnis zwischen Rationalität und Irrationalität im Denken des modernen Menschen.

 

I, Als Pfarrer leben

Ich beginne mit Fragen und Überlegungen zum Beruf des Pfarrers und – darüber hinausgehend – zur Berufsethik allgemein.

Denn: Mehrfach wurde ich während meiner Zeit als Pfarrer und Militärpfarrer darauf angesprochen, daß ich doch offenbar meinen Beruf – nur! – als einen Job betrachten würde … Und dahinter stand – unausgesprochen – die Vorstellung, ich würde meine Arbeit als Pfarrer nicht so richtig ernst nehmen, würde montags etwas anderes tun als sonntäglich von der Kanzel herab verkündet, würde mein „Amt“ insbesondere nicht als „Berufung“ verstehen (man bedenke: im nördlichen Saarland liegen die Bevölkerungsanteile der r.-kath. Kirche noch heute so um die 90 Prozent; die Vorstellung von einer evangelischen Berufsethik orientiert sich also weithin am katholischen Amtsverständnis!) … Und ich habe dann immer wahrheitsgemäß geantwortet: Ja, das sei zutreffend. Und manchmal habe ich sogar noch hinzugesetzt: … und ich wäre so manches Mal heilfroh gewesen, hätten meine Amts“brüder“ – respektive: …schwestern! – und „Stiefbrüder“ einen guten „Job“ gemacht … Interessant war übrigens die übliche Reaktion: wohlwollendes Kopfnicken, Zustimmung … so nach dem Motto „Ja, ja: wir Schlitzohren! Predigen Wasser + saufen Wein“ usw.

Ich möchte dieses Mißverständnis an dieser Stelle gerne auflösen und kann mich auch an dieser Stelle auf Max Weber (1864-1920) berufen, der sich einmal in einem berühmten Aufsatz („Die protestantische Ethik und der Geist des Kapitalismus“; zuerst 1904/05) zur lutherischen Berufsethik sachkundig + allgemeinverständlich geäußert hat.

Hilfreich ist es, mit der einer Skizze des r.-kath. Amtsverständnisses zu beginnen. Die katholische Kirche kennt – anders als die Protestanten – ein Sakrament der Priesterweihe. Was bedeutet das für den Priester? Durch die öffentliche Handauflegung wird er in die apostolische Sukzession – also die Abfolge der Jünger Jesu – eingereiht und mit der Verkündigung und Sakramentsverwaltung beauftragt: er handelt an Christi Stelle – umgekehrt: durch den Priester handelt Christus selbst!!! Diese Beauftragung (ordinatio) gilt lebenslang, kann nicht widerrufen werden und verleiht dem Geistlichen einen Character indelebilis. aber nicht nur das: wie insbesondere das II. Vaticanum festgelegt hat (Dekret über den Dienst und das Leben der Priester), gelten auch für ihn die sog. Evangelischen Räte (consilia evangelica; im r.-kath. Verständnis sind das: Armut, Zölibat sowie Gehorsam) – Superchristen! Aus diesem Selbstverständnis heraus arbeiten r.-kath. Priester häufig über die Pensionierung hinaus, von daher auch – angelehnt an biblische Vorbilder – die Vorstellung von einer Berufung. Soweit eine kurze – sicherlich im Detail angreifbare – Skizze. Ich verkneife mir an dieser Stelle – ungern! – die naheliegende Fragestellung, was das denn für den Fall von Verfehlungen von Ordinierten – in letzter Zeit sind insbesondere Verfehlungen sexueller Art in unfaßbarem Ausmaß bekannt geworden – bedeuten mag …

Luthers fundamentale Auseinandersetzung mit seiner Kirche begann bekanntlich mit einem scharfen Angriff auf das Ablaßwesen – die 95 Thesen von 1517 – der sich bald zu einer umfassenden Kritik am Mönchtum insgesamt ausweitete: eine Nestbeschmutzung, wenn man so will; denn schließlich war Luther ja selbst Mönch …

Seinen Standpunkt in dieser Frage entwickelt Luther nach zwei Seiten hin:

1) zum einen wertet er die Arbeit der sog. Laien auf. Das geschieht sehr früh (für die Experten: seit der Römerbriefvorlesung 1515/16), grundsätzlich dann aber 1520, dem Jahr der Trennung von seiner Kirche. In Luthers eigenen Worten: „Man hat’s erfunden, dass Papst, Bischof, Priester, Klostervolk wird der geistlich Stand genennt: Fursten, Herrn, Handwerks- und Ackerleut, der weltlich Stand. Wilch gar ein fein Comment und Gleissen ist. Doch soll niemand darub schuchter werden. Und das auch dem Grund: dann alle Christen sein wahrhaftig geistlichs Stands, und ist unter ihn kein Unterscheid, denn des Ampts halben allein; wie Paulus 1 Corinth., 12,12 sagt, dass wir allesampt ein Korper sein, doch ein iglich Glied sein eigen Werk hat, damit es dem andern dienet. Das macht allis, dass wir eine Tauf, ein Evangelium, einen Glauben haben, und sein gleiche Christen, Denn die Tauf, Evangelium und Glauben, die machen allein geistlich und Christenvolk. Dass aber der Papst oder Bischof salbet, Platten macht, ordiniert, weihet, anders dann Layen kleidet, mag einen Gleisner und Olgotzen machen, macht aber nimmermehr ein Christen oder geistlichen Menschen. Demnach, so werden wir allsampt durch die Tauf zu Priestern geweihet, wie St. Peter 1 Pet 2,9 sagt: ihr seit ein kuniglich Priesterthum und ein priesterlich Kunigreich …“ (aus: M. Luther, An den christlichen Adel deutscher Nation von des christlichen Standes Besserung. 1520). Das ist das Allgemeine Priestertum aller Gläubigen – wobei man allerdings kritisch anmerken muß, daß nur die Freikirchen diesen Gedanken konsequent zuende gegangen sind (die reformierten Kirchen halten sehr wohl an den Ämtern fest!) … Festhalten muß man an dieser Stelle Luthers neue berufsethische Sicht: „… darum heißen alle solche Stände, die mit Gottes Wort gestiftet sind, heilige, göttliche Stände, obgleich die Personen nicht heilig sind; als Vater, Mutter, Sohn, Tochter, Herr, Frau, Knecht, Magd, Prediger, Pfarrherr …“ (WA XXXI: 217, 19f.).

2) Sehr viel länger dauert seine Auseinandersetzung mit dem Mönchswesen: erst 1525 legt er die Kutte ab und dokumentierte mit der Eheschließung offen den Bruch der consilia evangelica, also der Mönchsgelübde (das wundert wenig: immerhin war er seit 1521 mit der Reichsacht bedroht – auf Hochdeutsch: der Kaiser drohte, unter seinem Hintern ein größeres Feuer anzuzünden …) Im Großen Katechismus (1529) erklärt er dann beispielsweise in Auslegung des vierten Gebotes: „… wenn du deine tägliche Hausarbeit tust, so ist das besser als die Heiligkeit und das strenge Leben sämtlicher Mönche …“  (Fortsetzung folgt).