Qualifikationsschriften haftet im allgemeinen1 ein zweifelhafter wissenschaftlicher Status an (Kieserling 2000, S. 43 ff.); von daher ist ein gute Diplomarbeit eine kurze Arbeit. Diesem Ziel kommt die hiermit vorgelegte Schrift insoweit entgegen, als sie eine einfache Frage stellt und ein einfaches methodisches Instrumentarium nutzt. Die Frage lautet: Ist Max Webers Rationalisierungskonzept heute noch als theoretischer Bezugsrahmen einer soziologischen Analyse der Moderne tauglich? Die Methode der Arbeit wird in Teil I. erläutert.

Der Inhalt der vorliegenden Arbeit läßt sich folgendermaßen zusammenfassen:

Ausgehend von der These Wolfgang Schluchters, daß das Werk Max Webers ein einheitliches Forschungsprogramm beinhalte und in drei insgesamt konsequent aufeinander folgende Schaffensperioden unterteilbar sei (a), sowie der These Dirk Kaeslers, daß der Begriff der Rationalität bei Max Weber ein Oberbegriff für sehr unterschiedliche Sachverhalte darstelle (b), zeigt die vorliegende Arbeit – nach Klärung methodischer und methodologischer Vorfragen (I.) und einer summarischen Einführung in das Verständnis der Vorkriegszeit als einer Krisenzeit (II.) – in einem ersten Hauptteil (III.) anhand ausgewählter Texte den in der Sekundärliteratur bekannten Sachverhalt auf, daß Weber erst nach seiner Krankheit um die Jahrhundertwende den Begriff der Rationalität aus der nationalökonomischen Diskussion seiner Zeit aufgreift und ihn für die Sozialwissenschaften als ein Spannungsfeld zwischen aufklärerischem Rationalismus einerseits und der qualitativ gesonderten Irrationalität der Realität begreift, die – in Aufnahme neukantianischer Ideen – allein unter dem Gesichtspunkt der »Wertbeziehung« zu Kulturideen, dann aber historisch und unter Ausschaltung von Werturteilen zu erfassen sei. In der »Protestantischen Ethik« bezieht Weber dann den Begriff der Rationalität in charakteristischer Weise auf eine Wertspäre, die nach herkömmlicher Auffassung der Rationalisierung gänzlich verschlossen ist. Schon hier verfolgt Max Weber ein eigenständiges, weites Rationalitätskonzept, das man – in moderner Sprachregelung – als Eigenlogik ausdifferenzierter Subsysteme bezeichnen kann.

Ist in dieser zweiten Werkphase der Blick im wesentlichen noch auf die modernen westlichen Industriegesellschaften und die mit ihr verbundene Kultur gerichtet, so weitet sich Webers Blick zu Beginn der dritten Phase um etwa 1910 mit dem musiksoziologischen Fragment: er erkennt nun Rationalisierungsprozesse in allen Wertsphären »zu allen Zeiten, an allen Orten«. Rationalisierung wird somit zur zentralen Deutungskategorie der Moderne; allerdings beinhaltet die Kategorie beide Pole zugleich: Rationalität und Irrationalität. Letzterer ordnet Weber insbesondere die Wertsphären der Kunst und der Religion zu.

Im einzelnen entwickelt Max Weber vier Formen von Rationalität: praktische, theoretische, formale und materiale Rationalität. Diese Typologie mündet bei Max Weber allerdings nicht in eine geschlossene Theorie und begründet vor allem inhaltlich keineswegs ein wachsendes Vernunftpotential moderner Gesellschaften, sondern vor allem zunehmende Zweckrationalität und zunehmendes instrumentelles Handeln (Habermas), das ganz unterschiedlichen Zielen subsumiert werden kann und sich in den diversen Wertsphären unterschiedlich ausdifferenziert. Diese gesellschaftlichen Subsysteme sind antagonistisch konzipiert. Ein Konzept einer übergreifenden, gesamtgesellschaftlich wirksamen Vernunft fehlt bei Max Weber, vielmehr ist das Rationalitätskonzept lediglich eine – allerdings zentrale – Deutungskategorie der Moderne, die als eine Achse mit den Grenzpunkten Rationalität und Irrationalität konzipiert ist. Insgesamt beurteilt Max Weber den Modernisierungsprozeß kritisch; insofern ist seine »Vision der Moderne« eher skeptisch.

An zwei Anwendungsfällen (Religionssoziologie sowie Betriebs- und Arbeitssoziologie) wird versucht, eine – aus heutiger Sicht gesehen: begrenzte! – bleibende Fruchtbarkeit dieses Ansatzes aufzuzeigen (IV.); sie ist in der Religionssoziologie vor allem durch das Deutungsmuster einer zunehmenden »Entzauberung der Welt« gekennzeichnet, während man für die Betriebs- und Industriesoziologie auf das Stichwort von der »Technisierung« (Werner Rammert) sowie die Bindung der industriesoziologischen Analyse an den Einzelbetrieb (Gert Schmidt) verweisen kann. Es wird allerdings auch darauf verwiesen, daß der Perspektive einer fortschreitenden Rationalisierung gerade in den speziellen Soziologien eine nur noch eingeschränkte Deutungskapazität zugetraut wird.

Abschließend (V.) wird gefragt, wie die moderne deutschsprachige, theoretisch orientierte Soziologie Max Webers Rationalisierungskonzept rezipiert hat. Anhand zweier maßgeblicher deutschsprachiger Theoretiker (Jürgen Habermas und Niklas Luhmann) wird skizzenhaft dargestellt, daß sowohl Jürgen Habermas als auch Niklas Luhmann Max Webers Rationalitätsbegriff als »gesellschaftliche Rationalität« reformulieren, letzterer mit deutlich erkennbarer Distanz zu Weber. Hierbei kommt dem Begriff der Kommunikation zentrale Bedeutung zu, wobei insbesondere bei Habermas Kommunikation zur rationalitätstheoretischen Totalkategorie wird. Diese Sicht wird aus einer konflikttheoretisch orientierten Sicht unter Aufnahme von Gedanken von Thorsten Bonacker als eine begrenzte Perspektive kritisiert: Jean-François Lyotards Begriff des (starken) Widerstreits zeigt demgegenüber die Unzulänglichkeit jeglicher Rationalitätsperspektive auf, zumal dann, wenn sie an (öffentliche) Kommunikation gebunden wird. Diese Einschränkung betrifft auch Webers Rationalitätskonzept; allerdings wird abschließend gefragt, ob nicht auch Webers Soziologie Ansätze zu einer postmodernen Sicht der Moderne beinhalte.-

Man sieht: die Antwort auf die eingangs gestellte Frage fällt nicht kurz aus – aber auch nicht länger als 120 Seiten: Jürgen Habermas, der – unter anderem – die gleiche Frage stellt (vgl. Habermas 1999a, S. 8), benötigt immerhin gut 1.100 Seiten, um zum Ende zu kommen. Die Gründe hierfür liegen in der Sache selbst: die MWG etwa ist derzeit auf 11.777 Seiten angewachsen – und ein Ende ist nicht absehbar.

Die Formulierungen des Titelblattes sind nicht die eigenen: eine Vision der Moderne nennt Dirk Kaesler Max Webers Arbeiten (Kaesler 1999, S. 190; vgl. auch etwa Roth 1979); und von einer Soziologie des Rationalismus schrieb Weber selbst gelegentlich (etwa an seinen Verleger; vgl. aber auch RS I, S. 537); der Begriff Vision wird im folgenden genutzt im Sinne der an Imre Lakatos anschließenden wissenschaftstheoretischen Überlegungen (dazu s.u.; vgl. Grabas 1997, S. 5).

Eine kleine Frucht der Lektüre möchte der Verfasser dieser Arbeit dem geneigten Leser abschließend als seinen eigenen Wunsch mitgeben:
„Der Sinologe, Indologe, Semitist, Ägyptologe wird […] natürlich nichts ihm sachlich Neues finden. Wünschenswert wäre nur: daß er nichts zur Sache Wesentliches findet, was er als sachlich falsch beurteilen muß.“ (RS I, S. 13)

Nachtrag 2024: Leider hat sich einiges geändert … Der Verfasser entschuldigt sich und verspricht Verbesserungen …

Es gibt auch Ausnahmen: den Arbeiten etwa von Beer (1999), Bonacker (1997) und Scher (1999) verdankt die hiermit vorgelegte Arbeit viel – mehr, als im Text ersichtlich.